top of page

Im Labyrinth des Begehrens – Die Ballade »En la maison Dedalus«(nach 1375)



Der Tractatus de Musica Guidonis d'Arezzo, fol. 31v. der University Library, Berkeley, United States [US-BE], zeigt die Niederschrift eines Musikstück in außergewöhnlicher Gestaltung, dessen Verfasser anonym bleibt – bislang wird vermutet, dass es sich um Petrus de Goscalch (bezeugt 1378-1394) handle, dem auch die Ballade En nul estat des Codex Chantily zugeschrieben wird.[1]


Anonymus: En la maison Dedalus

Tractatus de Musica Guidonis d'Arezzo, fol. 31v. der University Library, Berkeley


En la maison Dedalus ist als P l a n eines Einweg-Labyrinths (denn das Labyrinth ist ein dreidimensionales Bauwerk, das keinen Einblick in seine Struktur erlaubt und gerade deshalb so angsteinflößend ist) mit insgesamt 18 Kehren gestaltet, das mit einem Zirkel (dem wichtigsten Instrument des Baumeisters; die Einstichstelle ist sichtbar) gezeichnet wurde. Man erreicht den mittleren Raum über einen einzigen Weg, der alle Wendungen passiert; Sackgassen gibt es nicht. In diesem zentralen Raum ist ein kreisrunder roter Fleck platziert, der möglicherweise etwas ursprünglich anderes – etwa ein Zeichen, eine Rose oder einen Kopf … – verdeckt.

Notiert sind lediglich zwei Stimmen: Superius und Tenor. Die dritte Stimme entsteht aus der beigefügten Anweisung: »Tenor faciens contratenorem alter alterum fugando« (»Der Tenor macht den Contratenor. Der eine flieht vor dem anderen«) – eine hoch artifizielle Verfahrensweise, die dem Rätselcharakter des Labyrinths entspricht und zugleich Ausweis der Gelehrtheit des Komponisten ist.





Die Struktur der Aufzeichnung der Ballade ist zwar übersichtlich; dass daraus gesungen wurde, erscheint dennoch unwahrscheinlich. Es handelt es sich bei dem uns überlieferten Dokument eher um eine der Repräsentation dienende, nicht um eine zu Aufführungszwecken gedachte Aufzeichnung. In der folgenden Abbildung sind die Stimmen der Ballade markiert, die auf zwei Fünfliniensystemen (einem äußeren und einem inneren) notiert sind.



Struktur der Stimm-Aufzeichnung

Cantus: A (ouvert/clos), B, Refr.

Tenor/Contratenor (Kanon): A (ouvert/clos), B, Refr.

Struktur des Labyrinths mit Kehren


Obwohl das Labyrinth im Großen und Ganzen dem christlichen Typus entspricht, ist die Kreuz-Symmetrie hier

nicht verwirklicht; d.h. die Kehren des Labyrinthwegs sind nicht symmetrisch angeordnet. Sie folgen auch nicht der syntaktischen Gliederung von Text und Musik. Eine Übereinstimmung der Labyrinthstruktur (Kehren) mit dem Text/dem musikalischen Verlauf ergibt sich lediglich zwischen den Abschnitten A (clos) und B. Die Singstimmen folgen im Übrigen nicht den angelegten Wegen und Kehren (was das Stück letztlich vollkommen unleserlich

machen würde). Allerdings scheint der musikalische »Weg« bewusst angelegt: Beginnend am Eingang des Labyrinths wechselt die Aufzeichnung des Refrains zum inneren Kreis und endet schließlich exakt am Ausgang bzw. ­Zugang zum zentralen Raum. Die Lese- bzw. Bewegungsrichtung (im Uhrzeigersinn, spiralförmig) verläuft (wie dies in allen christlichen Labyrinthen der Fall ist) von West nach Ost, d.h. vom Tod zum Leben.


Woher kann der Komponist/Schreiber seine Anregung zu dieser Gestaltung erfahren haben? Gewiss kannte

er die Geschichte von Theseus, der den Minotaurus besiegte. Die Vorstellung vom Bauwerk des antiken Architekten Daedalus als Einweg-Labyrinth, in das der einer Mesalliance der kretischen Königsgattin Pasiphaë mit einem von Poseidon gesandten Stier entspringende Minotaurus – eine Rache der Götter – eingeschlossen war, hatte sich zu dieser Zeit bereits verfestigt. Einweg-Labyrinthe waren in einigen der Kathedralen Frankreichs zu sehen. Außer jenen der Kathedralen von Auxerre (zerstört 1690), Sens (zerstört 1768), Reims (zerstört 1778), Arras (zerstört 1795) und Amiens (zerstört 1825, rekonstruiert 1894) befindet sich bis auf den heutigen Tag eines im westlichen Langhaus der Kathedrale von Chartres.




Fußboden-Labyrinth der Kathedrale von Chartres


Mit seinem Durchmesser inkl. Zacken-(Dornen?)kranz von ca. 12,895 Metern [2] oder 11 französischen Ellen (Aune bzw. Aulne de Paris [3]) war das in den Boden eingelassene Labyrinth von Chartres – es befindet sich in der Nähe des Westeingangs, Ein- und Ausgang liegen auf der West-Ost-Achse – wohl das größte unter den zeitgenössischen Labyrinthen Frankreichs. Der Labyrinthweg weist 11 Umgänge und 28 Kehren sowie eine Länge von ca. 263 Metern bzw. 221 französische Ellen auf. Seine Anlage ist wie dasjenige von Sens kreisförmig – andere Labyrinthe waren quadratisch (Reims) oder achteckig (Amiens und Arras). Seine Kehren sind kreuzförmig angeordnet. In der Mitte – am Zielpunkt des Weges – ist eine sechsblättrige Blüte geformt, in die ursprünglich eine Metallplatte mit der Abbildung des Kampfes von Theseus gegen den Minotaurus eingelassen war (sie wurde während der Französischen Revolution entfernt und eingeschmolzen).


Die sechsblättrige Blüte im zentralen Raum des Labyrinths ist mutmaßlich eine Rose, deren Bedeutung in der christlichen Überlieferung mehrdeutig ist. Die Rose kann Symbol sowohl für Maria (rosa mystica), der die Kathedrale geweiht ist,[4] als auch für Jesus selbst und schließlich für das Paradies, das Himmlische Jerusalem (das alttestamentliche Jericho), sein, in dem der von Sünde und Umkehr geprägte Lebensweg eines guten Christenmenschen endet.[5] Die Sechs ist eine perfekte Zahl des pythagoräischen Systems (sie kann aus ihren Faktoren 1+2+3 außer sich selbst gebildet werden) und Triangularzahl 3. Ordnung.


Die 11 Umgänge (11 ist die Zahl der Überschreitung, der Sünde und des Irrtums) ergänzen sich durch den Raum in der Mitte zur bedeutungsvollen Zwölfzahl (Quersumme 3, 3x4 = Vereinigung von Gott und Welt, Summe ihrer Teiler: 7). Die 28 (Anzahl der Kehren) ist 4x7 und eine perfekte Zahl (1+2+4+7+14), außerdem ist sie Triangularzahl 7. Ordnung (28 = 1+2+3+4+5+6+7). Die Außenkante des Labyrinths ist von 112 Zacken gesäumt. 112 = 4 x 28.


Dem Labyrinth im Kirchenraum kommt eine wichtige Funktion im Ritus zu. Von den beiden aus Chartres im Zusammenhang mit dem Labyrinth überlieferten Riten sah einer einen Tanz in der Osternacht vor, zu dem die Sequenz Victimae Paschali laudes gesungen wurde, die die Auferstehung Jesu als Sieg des Lebens über den Tod feiert (ein Ereignis, das astrologisch mit dem Erscheinen der Sonne im Sternzeichen Widder an den Frühlingsäquinoktien zusammenhängt). Dazu wurde der gesamte Weg des Labyrinths beschritten.

Text


Der Text der Ballade folgt dem »Königlichen Reimschema«. Der Rhyme Royal (oder Rime Royal) ist eine reimende Strophenform, die nachweislich von Geoffrey Chaucer (um 1340–25. Oktober 1400) erfunden und in die englische Poesie eingeführt wurde. Der Name ist wohl der Tatsache geschuldet, dass König James I. von Schottland sie in seinem an Chaucer angelehnten Gedicht The Kingis Quaire (kurz vor 1424) verwendete.


Der Rhyme Royal besteht aus sieben Zeilen in (üblicherweise) iambischem Pentameter. Das Reimschema ist ababbcc. In der Praxis kann die Strophe entweder als Terzett mit zwei Verspaaren (aba bb cc) oder als Vierzeiler (Quatrain) mit Terzett (abab bcc) gebaut sein. Aufgrund der Ausdehnung der Form im Vergleich zum Quatrain und dem Gefühl des Abschlusses in der sechsten und siebten Zeile entsteht der Eindruck, dass es von zyklischer, reflektierender Qualität ist. Bemerkenswert ist, dass drei Textzeilen mit Zeilen aus Guillaume de Machauts Balladendichtung identisch sind (Zeile 5) bzw. große Ähnlichkeit aufweisen (Zeile 2, Refrain).[6]


Dichtung: Quatrain + Terzett (abab bcc), iambische Pentameter / Musik: AA'B – Refrain | AA'B – Refrain


Musik Text Reim

1. A En la maison Dedalus enfermée a

est ma dame, vers qui ne puis aler, b vgl. Machauts Ballade Ne que on porroit (B33)

2. A' car je n’i voi issue ni entrée a

par ou je puisse a son gent corps parler. b

3. B Dont maint soupir me convient estrangler b vgl. Machauts Ballade Ne que on porroit (B33)

et en tourment me convendra languir. c

Ref. Se ne la voi, briefment m’estuet morir. c vgl. Machauts Ballade Trop de peinne (Lo164)


4. A Car c’est la flour de mon cuer desiree; a

nul ne treuve qui m’i sache mener. b

5. A' C’est tout bien m’amour et ma pensee, a

ne je n’ay nulle aultre rien a penser. b

6. B Or ne la puis ne vëoir n’encontrer, b

Ne je ne say comment a li venir. c

Ref. Se ne la voi, briefment m’estuet morir. c



1. A Im Haus des Dedalus eingeschlossen

ist meine Dame, zu der ich nicht gelangen kann,

2. A’ denn ich sehe weder einen Ausgang noch einen Eingang

durch den ich zu ihrem sanften Körper sprechen kann.

3. B Von meinem Seufzen werde ich erwürgt

und in der Qual verschmachte ich.

Refr. Wenn ich sie nicht sehe, werde ich bald sterben.


4. A Sie, nach der ich mich sehne, ist die Blume/Blüte meines Herzens;

Ich finde niemanden, der mich (zu ihr) zu führen weiß.

5, A’ Das ist alles, was meine Liebe und mein Denken bestimmt,

und ich kann an nichts anderes denken.

6. B Aber ich kann sie weder sehen, noch kann ich ihr begegnen,

Denn ich weiß nicht, wie ich zu ihr gelangen kann.

Refr. Wenn ich sie nicht sehe, werde ich bald sterben.










Musik


Tonart

Die Phrase, die den Namen »Dedalus« kennzeichnet, ist identisch mit jener des »clos« von Formteil A sowie mit der Schlussphrase des Refrains:


Es handelt sich um eine »Rücklaufballade«.







Die Finalis c wird zum ersten Mal Ende des Textworts »Dedalus« erreicht. Der erste Vers (»enfermée«) endet auf der Oberquinte g.

Pendelmelodik (genauer: eine circulatio) und ein daraus hervorgehender diatonischer Abwärtsgang sind kennzeichnend für die erste Phrase der gregorianischen Melodie von Victimae Paschali Laudes [a]. Eine gewisse Ähnlichkeit damit zeigt der Beginn des Superius von En la maison Dedalus [b]








Motiv d der Sequenz taucht darüber hinaus mehrfach in den Unterstimmen der Ballade auf (hier am Beginn des Abschnitts B):






Kadenzen

Alle clausulae cantizans des Stücks liegen im Cantus. Die Versschlüsse werden durch Klauselbildungen unterschiedlicher Art (für die Zeit typische Terz-, Quart- und Quintparallelen) hervorgehoben. Erwartungsgemäß deutlich erfolgen die Schlüsse von A (clos) und Refrain im Quint-Oktavklang.


Der Superius ist aus wenigen identischen oder auseinander abgeleiteten Phrasen gebaut, die auf unterschiedlichen Tonstufen stehen. Sie sind in ihrer Mehrzahl kadenzielle Wendungen (clausulae cantizans) und haben entweder öffnenden oder schließenden Charakter. Die clausulae enden auf folgenden Tonstufen: h, g, d, e und – am Ende des Abschnitts A (clos) und des Refrains auf der Finalis c.

In Mensureinheit 16/17 wird ein Lagenwechsel mittels Oktavsprung vorgenommen, um die Schlusswendung des Abschnitts einzuleiten.


Wortausdeutungen

»dame« – Quintfall in Cantus und Tenor zum Einklang auf c = vielleicht ein Hinweis auf »die Einzige«

»ne puis« – hier bilden Cantus und Contratenor einen Einklang über dem e des Tenor. Die Stelle weicht also

inmitten einer Dreistimmigkeit von dieser ab.

Achtelpausen, die häufig am Beginn einer Phrase stehen, können möglicherweise als die im Text genannten Seufzer (suspiratio) gedeutet werden. Zunehmend wird der Textfluss dazuhin durch punktierte Viertelpausen unterbrochen.[7]

Das Textwort »morir« wird sechs Mensureinheiten vor Schluss des Refrains mit einem Septsprung erreicht.


Zahlen

Die Ballade erweist sich hinsichtlich ihrer Abschnitte und Tonanzahlen als planvoll angelegt. Mit Ausnahme der

Gesamtzahl der Töne des Superius (221) sowie einer weiteren Summenzahl (Summe aller Töne des Abschnitts B+Refrain = 180) sind die Befunde nicht erkennbar spezifisch bedeutsam und können auch nicht gematrisch aufgelöst werden. Immerhin besteht die zahl­­hafte Gliederung der Stimmen und Abschnitte aus vielfachen der 3, der 4, der 9, der 10 und der 12, also aus mit christlicher Bedeutung belegten Zahlen. Hier die Anzahl der geschriebenen Töne pro Abschnitt:















Im Traktat, an dessen Ende die Ballade steht, ist ein »Goscalcus Francigena« genannt (vgl. Anm. 1).

Die Gematrie des Namens Goscalcus Francigena ergibt die Summenzahl 180:


G O   S   C   A   L   C   U   S F R   A   N C   I   G   E   N   A

7 +14+18+3 +1+11+3+ 20+18 6+ 17+1+ 13+3+ 9+ 7+ 5 13+ 1

95 + 85 = 180


Berücksichtigen wir die Anzahlen der in einer Realisation tatsächlich erklingenden Töne, so ergibt sich folgendes Bild:











Die Anzahl der real erklingenden Töne im Superius (A, B, Refr.) beträgt 221, genauso viel wie die Anzahl aller

drei Stimmen im Abschnitt A (Zeilen 1/3 ouvert und 2/4 clos). Die Anzahl der Töne in den Abschnitten B und Refr. entspricht damit der aller Töne von Ct. und Ten.: 180. Der Sänger, den wir jetzt als Goscalcus Francigena identifiziert haben, durchmisst also in der Anzahl der Töne seiner Stimme die gesamte Weglänge des Labyrinths.


Festzuhalten ist darüber hinaus, dass das Stück insgesamt 56 Mensureinheiten (Quersumme 11 bzw. 2x28) und 28 Pausen hat (7x4, 1+2+3+4+5+6+7). 11 Umläufe und 28 Kehren hat das Chartres-Labyrinth.


––––––––––––––––––––––


Die dem griechischen Sagenkreis entstammende Geschichte vom Kampf des Theseus mit dem Minotaurus schildert – so eine der prominenteren Interpretationen des Mythos – einen Initiationsritus (als Jüngling betritt Theseus verbunden mit einer Nabelschnur (dem Faden der Ariadne) das Labyrinth von Daedalus, besiegt im Minotaurus sich selbst und kehrt an der Nabelschnur als neugeborener Mann zurück). In späterer Zeit wurde die Erzählung christlich überformt: aus Theseus wurde Christus und aus dem Minotaurus das Böse, das jener besiegt hat.


In En la maison Dedalus allerdings geht es weder um Theseus noch um Christus, der den Minotaurus/das Böse

besiegen muss, sondern um einen Liebenden, der seine Dame im Zentrum des Labyrinths gefangen wähnt und nicht zu ihr gelangen kann, weil ihn die unbekannte Raumstruktur des Bauwerks gänzlich verunsichert und niemand ihn führt.[8] Sein Begehren, das er in die Verse eines Liebesverlangens kleidet, bleibt letztlich unerfüllt – und damit im Rahmen einer höfischen Liebesdichtung, die gerade im unerfüllten Liebesstreben ihre Erfüllung findet.


Das Labyrinth ist Reflexionsfigur, Rätsel und Erkenntnis (Er-Lösung) zugleich. Durch seine Wege und Begrenzungen wird es zum Rätsel, das gelöst werden muss – so, wie die Notation und vor allem die Kanonanweisung für die Contratenor-Stimme durchschaut und aufgelöst werden müssen. Was dem Liebenden nicht gelingen will, wird den Musizierenden möglich. Die Draufsicht auf die Notation (die keine Begehung des Raumes verlangt und daher eine angstfreie Orientierung zulässt) lässt sie den Weg zum Zentrum (zum Ende der Ballade) finden sowie das Rätsel des Kanons lösen. In der Realisation der Ballade überwinden sie das Ausgesetztsein und die Verunsicherung, die der Text formuliert.


Ziehen wir in Betracht, dass das Labyrinth von Chartres Vorbild des Notenlabyrinths von En la maison Dedalus war,[9] so können wir in der im Text der Ballade genannten Dame die Jungfrau Maria erkennen: Die Blume/Blüte, von der der Text spricht, ist dann jene zentral platzierte sechsblättrige Blüte des Labyrinths. Als Blume des Frühlings besungen, ist die Rose das Symbol der Jungfräulichkeit Marias. Wird die weltliche Geliebte als »Blume«, »Blüte« oder »Rose« bezeichnet, so wird sie durch ihre Ähnlichkeit mit Maria geadelt; Maria wiederum wird durch diese Gleichsetzung vermenschlicht. Indem die weltliche Geliebte oder Maria über das Symbol der Rose mit dem Wunder des Frühlings verknüpft wird, wird sie mit dem Heilsgeschehen der Auferstehung Jesu verbunden.


Mit der Zentrierung des Labyrinths in der Rose wird dieses zum hortus conclusus,[10] die Begehrte zur Mutter Jesu, zur Fürsprecherin der Menschen in der Stunde des Todes, deren Emblem, die dornenlose Rose, Symbol ihrer unendlichen Barmherzigkeit (im Text: »gent corps«) ist. Die Qual, die der Sänger-Komponist erleidet, wird dann durch die Erkenntnis erzeugt, den labyrinthischen Weg zu Maria nicht begehen, d. h. diese Fürsprache­­ nicht erlangen zu können.[11] Er verbleibt am Eingang des Labyrinths (im Westen = Tod). Seine Schlussfolgerung, er müsse in Kürze sterben, ist daher nur folgerichtig.



Anmerkungen

[1] Ob der in der Berkeley-Abhandlung, einer Zusammenstellung musikwissenschaftlicher Schriften des 14. Jahrhunderts genannte Goscalcus Francigena mit Petrus de Goscalch, dem Komponisten des päpstlichen Chors von Avignon, identisch ist, ist nicht sicher.

Ursula Günther: »Goscalch«, in: New Grove Dictionary of Music and Musicians. Vgl. Richard Crocker: »A New Source for Medieval Music Theory«, in: Acta Musicologica 39 (1967), US-BEm 744, S. 62.

[2] Maße (in Zentimetern/Metern) ermittelt durch Erwin Reißmann und Andreas Frei, https://bloggermymaze.wordpress.com/2011/02/11/ wie-lang-ist-der-weg-im-chartres-labyrinth/

[3] Die alte französische Elle (Aune bzw. Aulne de Paris) hatte eine Länge von ca. 1,1884 m.

[4] Im Jahr 876 weihte Karl der Kahle dort eine Vorgänger-Kirche der heutigen Kathedrale und übergab dem Sanktuarium eine heilige Reliquie, die als Sancta Camisia bezeichnete Tunika, die die Jungfrau Maria bei der Verheißung der Geburt Jesu durch den Erzengel Gabriel getragen haben soll. Heute wird in der Kathedrale ein ungefähr 30×30 cm großes Tuch dieser Tunika verehrt.

[5] Das Labyrinth von Chartres folgt der Zeichnung einer Handschrift des Pariser Kloster St. Germain des Prés. Das dort abgebildete Labyrinth weist bereits 11 Umgänge und 28 Kehren auf. Auch Villard de Honnecourt, ein französischer Künstler des 13. Jahrhunderts (um 1200, + nach 1235) kannte das Labyrinth von Chartres. Seine Skizze (Skizzenbuch Bibliothèque nationale de France, Signatur MS Fr 19093 – 33 Pergamentblätter, unvollständig) weist ebenfalls eine symmetrische Anlage auf. Villard de Honnecourt stammt aus einem Ort unweit von Saint-Quentin. Seine Mitwirkung an Bauzeichnungen von Reims, Chartres, Laon und Lausanne ist bezeugt. In seinem Musterbuch hinterließ er uns etwa 250 Zeichnungen, darunter ein Labyrinth mit 11 Umgängen und 28 Kehren. Hier die Labyrinth-Skizze von Villard de Honnecourt:










[6] Elizabeth Eva Leach: »The fourteenth Century«, in: The Cambridge Companion to Medieval Music , Ed. by Mark Everist, Cambridge

University Press 2011, S. 87-104, hier: S. 102.

[7] Vgl. Guillaume de Machauts Tous corps / de souspirant cuer / suspiro (Beginn):








[8] Der 1377 fertiggestellte Musiktheorie-Traktat verhandelt »modes, discant and mensuration, speculative theory, and tuning of semitones (including advanced musica ficta)«. Vgl. Leach, a.a.O.

[9] Sollte das Labyrinth von Chartres tatsächlich das Vorbild für die Gestaltung der Niederschrift der Ballade gewesen sein, so muss noch einmal festgehalten werden, dass das Notenbild die vollkommene (kreuzförmige) Symmetrie von Chartres ignoriert wie es auch lediglich 16 Kehren anstelle der 28 Kehren von Chartres hat.

[10] Die Begehrte wird hier zur »Schwester Braut« des Hoheliedes: »Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut, eine verschlossene Tür, ein versiegelter Quell« (Hohelied 4,12) »Indeed (…) the hortus conclusus was frequently the generic location de choix for the romance heroine as well as her spiritual doppel­gänger, the Virgin Mary. Indeed, both women were frequently conflated in terms of popular representations of the enclosed, contained—and, therefore, ›ideal‹ woman, walled-up in a space that not only reflected the naturalness of patriarchal order, but the dictates of divine order too.« Liz Herbert McAvoy: »The Medieval Hortus conclusus: Revisiting the Pleasure Garden« http://ir.uiowa.edu/mff/vol50/iss1/ (Abruf 08.07.2023)

Michaela Eskew beschreibt den hortus conclusus »as a symbol of the Virgin Mary. St. Jerome (Hieronymus) wrote that this enclosed garden, labeled hortus conclusus, reminds us of the mother of our Lord, mother and virgin.« (Vgl. Mirella Levi D. Ancona: The Garden of the Renaissance: Botanical Symbolism in Italian Painting. Florenz 1977, S.176). Und weiter unten: »The French Abbot, Adam of Perseigne, who wrote in the twelfth century, described the Virgin Mary as a garden enclosed.13 Therefore this garden takes on a very important role in the Christian tradition, that of the womb which would bring the world its redeemer, Jesus Christ.« Michaela Eskew: A Portion of Heavenon Earth: The Tradition of Enclosed Gardens in the Netherlands, Britain, and France, 2018, S. 5

[11] Das lyrische Ich unserer Ballade steht vor dem Eingang eines Einweg-Labyrinths, das er gleichwohl für einen Irrgarten hält, dessen Wege und Wendungen er als undurchschaubar und daher bedrohlich wahrnimmt. Des Labyrinth, das Daedalus, der berühmteste Baumeister der Antike, für den kretischen König Minos entworfen hatte, muss ein solcher Irrgarten gewesen sein, soll der Mythos von der Heldentat des Theseus, die jener unter Mithilfe Ariadnes vollbringen konnte, seinen Sinn behalten: nur in einem Irrgarten ist Ariadnes Faden notwendig.



© Rolf W. Stoll 2023



Comments


Recent Posts
bottom of page